Die Vernunft, das Band aller Weisen des Umgreifenden

„Nicht nur sind mehrere Umgreifende, sondern in allen Weisen des Umgreifenden tritt eine Vielfachheit auf. Eine Mannigfaltigkeit zerfällt, Gegensätzlichkeiten scheinen sich gegenseitig zu vernichten oder auszuschließen. Es ist möglich, im Vielerlei sich zu bewegen, es nebeneinander hergehen, Fremdes sich nicht angehen zu lassen, in der Zerstreutheit fraglos zu leben. Aber in der Erfahrung des Ungenügens der Zerstreutheit ist ein entscheidender Sprung möglich und, wenn bewußt geworden, notwendig: wenn ich keine Ruhe habe im Nebeneinander, wenn der Antrieb unstillbar wird, alles mit allem in bezug zu erfahren, die Einheit zu erfassen und zu bewirken.

Dieser Sprung führt zur Vernunft. Sie will und ist das Band aller Weisen des Umgreifenden und aller Erscheinungen in ihnen. Aber wenn hier eine stille Unablässigkeit aus eigenem Ursprung bereit ist, so wird doch erst aus der lebendigen Existenz diese Vernunft in mir als das Umgreifende in Bewegung gebracht, das allaufgeschlossen alles mit allem verbinden möchte. –“

(Von der Wahrheit, 2. Aufl., 1958, S. 49f.)

„In allen Situationen will Vernunft, was auch immer ist, aus der Zerstreutheit des sich gegenseitig Gleichgültigen in die Bewegung des Zueinandergehörens zurücknehmen. Aus der Beziehungslosigkeit, aus dem Zerfall in sich Fremdes will sie alles sich gegenseitig wieder angehen lassen. Nichts soll verlorengehen.

Beobachten wir die Wissenschaften, so zeigt sich Vernunft gegenüber der endlosen Häufung von richtig Wißbarem als die verbindende Kraft. Sie ist der Antrieb, über jede Grenze einer Wissenschaft hinauszugehen, die Widersprüche aufzusuchen, Beziehungen und Ergänzungen zu finden. Sie wirkt als Idee der Einheit aller Wissenschaften. Aber Vernunft drängt über die Einheit wissenschaftlichen Wissens hinaus zum allumfassenden Verbinden. Vernunft ist es, die bei der Erhellung des Umgreifenden von einer Weise zur anderen fortzuschreiten zwingt, keine Weise in ihrer Isolierung läßt und auf das Einswerden alles Umgreifenden drängt.“

„Daher geht Vernunft auch auf das am Maßstab des Allgemeingültigen Unbegründete. Sie wendet sich an die das Allgemeine durchbrechende Ausnahme und an die unbegriffen fordernde Autorität. Auch in ihnen bleibt sie nicht, als ob sie am Ziele sei, stille stehen. Auch sie sind, gemessen an dem fordernden Einen, noch ein Vorläufiges, zum Zeitdasein Gehörendes. Aber in keinem Vorläufigen – und habe es den großartigsten Aspekt – kann Vernunft ihre Ruhe finden. Vernunft wird angezogen noch von dem Fremdesten. Noch was im Durchbruch des Gesetzes des Tages die Leidenschaft zur Nacht zerstörend und sich selbst vernichtend verwirklicht, will sie im Erhellen zum Sein bringen, will ihm Sprache leihen und es nicht wie nichts verschwinden lassen. Vernunft drängt dahin, wo immer Einheit durchbrochen wird, um im Durchbruch noch eine Wahrheit dieses Durchbruchs zu erfassen. Im Zerbrechen jeder sich dadurch als vorläufig und unzureichend erweisenden Einheit will sie den metaphysischen Bruch, das Zerreißen des Seins selbst, der eigentlichen Einheit, verwehren. Vernunft, Ursprung der Ordnung, geht daher auch noch mit bei dem die Ordnung Durchbrechenden; sie bleibt das Geduldige – das Unablässige und Unendliche – vor allem Fremden, vor dem Einbrechenden, vor dem Versagenden.“

(Von der Wahrheit, 2. Aufl., S. 114f.) 

„Vor Jahrzehnten habe ich von Existenzphilosophie gesprochen und damals hinzugefügt, es handle sich nicht um eine neue, nicht um eine besondere Philosophie, sondern um die eine, ewige Philosophie, der für einen Augenblick des Verlorenseins an das bloß Objektive der Kierkegaardsche Grundgedanke als Akzent gegeben werden dürfe. Heute möchte ich die Philosophie eher Philosophie der Vernunft nennen, weil es dringlich scheint, dies uralte Wesen der Philosophie zu betonen. Geht Vernunft verloren, so geht die Philosophie selber verloren. Ihre Aufgabe war von ihrem Anfang her und bleibt, Vernunft zu gewinnen, als Vernunft sich wiederherzustellen, und zwar als die eigentliche Vernunft, die in der Beugung unter die Notwendigkeiten des zwingenden Verstandes, ihn selbst sich ganz zu eigen machend, doch nicht in die Verengungen des Verstandes gerät.

Vernunft scheint wie der Entwurf des erhofften Menschseins, soweit es an uns selber liegt, es hervorzubringen. Es ist ein Menschsein, das allen Menschen zugänglich ist, sie verbindet, und zugleich ihre geschichtliche Erfüllung bis in die je einzige unersetzliche Existenz jedes Einzelnen nicht nur zuläßt, sondern fordert. Die Vernunft würde als Grundverhaltungsweise das Verbindende des sich Fremden, des geschichtlich Ursprungsverschiedenen. Sie würde zur Ermöglichung wachsender Kommunikation des sich entfaltenden Mannigfaltigen, das sich gebunden weiß im Einen, das niemand gehört und dem alle gehören.“

(Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit, 2. Aufl. 1952, S. 49f.)

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