Descartes

Jaspers schreibt zu diesem Buch in der Einleitung:

„Der Ruhm des Descartes ist so außerordentlich, seine historische Wirkung so unbestritten, das Studium einiger seiner Hauptschriften noch heute so unersetzlich in der Erziehung der philosophierenden Menschen, daß es überflüssig ist, seine historische Größe zu zeigen. Zumal die deutschen Philosophen seit Hegel und Schelling haben in ihm den Anfang und Ursprung der neueren Philosophie gesehen.

Man kennt die unverlierbaren Entdeckungen des Descartes in der Mathematik. Man erfährt die damals außerordentliche Neuerung der Denkform: wer von der Lektüre der Philosophen der Renaissance zu Descartes kommt, fühlt sich plötzlich wie in klarer Luft; der Gedanke ist prägnant, jeder Satz ist unverrückbar an seiner Stelle; Überflüssiges wird nicht berührt; Beiläufigkeiten fehlen; der Fortgang ist entschieden und zielbewußt; der Leser fühlt sich in Zucht genommen.

Man sieht den großen Stil seines disziplinierten Lebens, die Tapferkeit und Vornehmheit und besonnene Klugheit seines Wesens: er geht in die Einsamkeit, geht in fremdes Land, um Ruhe zu haben zum reinen Denken; er weiht sein Leben ganz seiner von ihm geglaubten Aufgabe, der Erneuerung allen Erkennens.

Trotzdem ist es nicht leicht, über solche allgemeinen Charakteristiken der Form und der Wirkung hinaus bestimmter und deutlicher zu zeigen, worin eigentlich die philosophische Größe des Descartes besteht. Diese Größe ist bezweifelt worden. Es gibt in der Literatur über Descartes die vermeintlichen Enthüllungen, durch die er entlarvt werden soll als Heuchler, der nicht sagt, was er denkt; als Feigling, der, immer ängstlich und mißtrauisch, sich versteckt und in Masken verbirgt; als der unerträglich Hochmütige, der, zugleich eifersüchtig auf die Leistung anderer, eine listige Politik für seinen Ruhm treibt; als der Revolutionär, der alles Bestehende zertrümmern will. Solchen Wertungen schließen wir uns nirgends an. Aber auch wir gehören bei aller Bewunderung für seine historische Größe zu denen, die an dem Gehalt und an der Methode seiner Philosophie als einer ewigen Gestalt philosophischer Wahrheit zweifeln. Denn wenn wir die Frage stellen, in welchem Sinn wir uns diese Philosophie aneignen, so meinen wir in der Klarheit des rationalen Vordergrundes ein außerordentlich verschlungenes Gewebe eines Philosophierens zu sehen, dessen Wahrheit vorbeizutreffen scheint gerade dort, wo eben noch Entscheidendes von ihm ins Auge gefaßt war. Wenn wir dann beobachten, wie Descartes’ Denken in anderen Köpfen wirkte, so fragen auch wir, ob er durch seine Größe nicht zugleich eine Macht war, die das Philosophieren aller, die ihm folgten, zwar entzündete, aber zugleich auf einen Abweg brachte, nicht nur durch seine Methode, sondern auch durch seine Inhalte. Weil er etwas für die neue Zeit Wesentliches berührte, vermochte er auch auf die größten Geister zu wirken; soweit er aber in der Weise seiner Berührung den Sinn des Getroffenen sogleich auch verfehlte oder gar verkehrte, wurde er für jeden, der durch ihn fasziniert wurde, eine Gefahr. Es könnte sein, daß die Philosophie durch die Denkantriebe, deren Schöpfer und größter Repräsentant Descartes war, schief wurde, und daß sie, was sie im Gefolge des Descartes an Tiefe der Wahrheit zeigte, mehr noch trotz Descartes als durch Descartes hervorgebracht hat.

Die Gegnerschaft gegen Descartes – ununterbrochen von seinen Lebzeiten bis heute – ist aus sehr verschiedenen, ja sich gegenseitig ausschließenden Motiven erfolgt. Sie ist als solche noch nichtssagend. Es kommt darauf an, den Sinn der Gegnerschaft bestimmt aufzuzeigen. Die Gegnerschaft wird um so wahrer, je entschiedener sie das kritische Verständnis vollzieht. Wenn sie in dem Ursprung der Wahrheit schon die Ansätze des Unwahren aufzuzeigen wagt, muß sie doch zugleich jene Wahrheit des Ursprungs festhalten, ohne die jede historische Größe unbegreiflich wäre.

Unsere Analyse gewinnt ihre Ordnung aus folgender Überlegung: Es ist der Ruhm des Descartes, daß er die Philosophie durch Methode zur Wissenschaft erheben wollte, die zusammenfällt mit dem Ganzen der Wissenschaft überhaupt. Seine Methode hängt zusammen mit seinem ebenso berühmten Grundgedankengang, durch den ihm aus dem universellen Zweifel Gewißheit hervorgehen sollte.

Beides – das Problem der Methode und das Problem des Ursprungs – ist in seiner Philosophie zusammengewachsen zu einem Ganzen; aber es ist entstanden aus zwei zunächst unabhängigen Quellen. Beim Suchen nach der Methode scheint Descartes auf demselben Wege zu gehen, auf dem die damals moderne Naturwissenschaft ging. Der Grundgedankengang, der zugleich mit der Begründung der Gewißheit die Prinzipien allen Seins entwickelt, steht dagegen in Zusammenhang mit der uralten Philosophie selbst: sie wollte in dieser neuen Gestalt die Grundlage schaffen nicht nur für die moderne Wissenschaft, sondern für das Leben des Menschen im Ganzen.

Wir analysieren im ersten Teil den Sinn des neuen philosophischen „Grundgedankengangs“, im zweiten Teil den Sinn der „Methode“. Auf Grund der Einsichten, die wir dabei über Descartes’ Philosophie zu gewinnen meinen, erweitern wir im dritten Teil unsere Betrachtung auf das gesamte Wesen dieser Philosophie und ihre Stellung in der Philosophiegeschichte (1).“

(1) Diese Schrift wurde geschrieben auf Veranlassung der Revue philosophique (Paris). Sie ist in deren Descartes-Sonderheft (anläßlich der dreihundertjährigen Wiederkehr des Erscheinungsjahres des discours de la méthode) 1937 in französischer Übersetzung erschienen.

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