Heimweh und Verbrechen

Als Karl Jaspers sein Medizinstudium 1909 in Heidelberg mit der Promotion über „Heim- weh und Verbrechen“ abschloss, konnte er an eine Begriffsgeschichte anschliessen, die Heimweh über beinahe zweieinhalb Jahrhunderte hinweg als manifesten pathologischen Befund behandelte. Bis ins 18. Jahrhundert hinein galt Heimweh dabei als „Schweizer Krankheit“, beobachtet vor allem an den jungen Männern die sich als „Reisläufer“, als marodierende Söldner in den europäischen Religions- und Territorialkriegen, verdingen mussten. Erst um 1750 wurde das ursprüngliche Dialektwort in den deutschen Wortschatz übernommen, und in der Romantik von Dichtern wie Eichendorff und Tieck aus der Pathologie in die Sphäre der Literatur überführt. Dort fristete „Heimweh“ dann ein beschaulich-biedermeierliches Dasein als poetische Umschreibung des Unbehagens an der von Dampfmaschinen, Eisenbahnen und Arbeiterelend geprägten Modernisierung, bis der junge Mediziner Jaspers, der erst später zum Philosophen der Existenz heranreifen sollte, ihn an der Schwelle zu einer bewegten akademischen Laufbahn in den wissenschaftlichen Diskurs re-importierte. Er nahm eine Reihe spektakulärer Kriminalfälle zum Anlass für eine qualitative Studie über die psychosozialen Folgen des Verlustes von Heimat. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert reflektierte er dabei implizit auch die problematischen Aspekte des Übergangs von der Agrar- zur Industriegesellschaft und der damit verbundenen Entwurzelung weiter Bevölkerungskreise, die den geschichtlichen Hintergrund der von ihm untersuchten Biografien bildete.

Karl Jaspers war in seinem Studium auf eine Reihe schrecklicher Verbrechen von jungen Frauen gestossen, die von zuvor unbescholtenen Dienst- und Kindermädchen an den Kindern ihrer Dienstherren begangen worden waren. Sie hatten sich erhofft, so gaben sie als Motiv übereinstimmend an, dass ihre Taten es ihnen ermöglichen würde, wieder nach Hause zu kommen – sie gaben an, sie hätten die Morde und Brandstiftungen aus „Heimweh“ ausgeführt.

Der letzte Aufsehen erregende Fall eines Kindsmordes durch ein ‚Dienstmädchen‘ führt wiederum in die Schweiz: Das 21-jährige Au Pair-Mädchen Olivia R. aus Wettingen/AG wurde 1992 des Mordes an dem Baby ihrer Gastfamilie angeklagt. Das Kleinkind war mit Brandbeschleuniger besprüht und angezündet worden und den Verbrennungen erlegen. Olivia R., die zur Tatzeit als einzige Person im Haushalt war, stritt die Tat ab, und sie wurde freigesprochen: Die Geschworenen konnten kein Motiv erkennen. Die amerikanische Journalistin Joyce Eddington ging dem Fall nach und stiess bei ihren Recherchen auf die Dissertation von Karl Jaspers – und damit auf eine mögliche Erklärung für das Unerklärliche.

 

(Text entnommen dem Projektbeschrieb für ein Musik-Theaterprojekt über ein untotes Gefühl
auf der Basis der gleichnamigen Dissertation von Karl Jaspers
von Beate Fassnacht (Text/Regie), Hilde Schneider (Text/Regie), Balthasar Streiff (Musik) und Heike Dürscheid (Dramaturgie)
Eine Produktion von North By North West Kulturprojekte/Peter-Jakob Kelting
Premiere 19. September 2010
Weitere 15 Vorstellungen bis Ende November 2010
Ort: Pathologiehörsaal der medizinischen Fakultät )

Szenefoto aus "Heimweh und Verbrechen" an der Universität Basel; Regie und Text: B. Fassnacht und H. Schneider; Musik: B. Streiff; Dramaturgie: H. Dürscheid.

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