Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

Jaspers hat dieses umfangreiche Buch (576 Seiten) in der Spätphase seines Denkens, als er 79 Jahre alt war, publiziert. Es ist in 7 Teilabschnitte gegliedert wobei der 4. und der 5. Teil den grössten Umfang haben. Hier stellt Jaspers im Kontext des im Buchtitel genannten Themas seine Chiffern-Metaphysik ausführlicher dar als dies im 3. Band (Metaphysik) seines existenzphilosophischen Hauptwerks Philosophie von 1932 der Fall ist. Der 3. Teil „Aus dem philosophischen Grundwissen (der Philosophie des Umgreifenden)“ und der 6. Teil „Befreiung und Freiheit des Menschen heute“ betreffen nicht unmittelbar das im Titel angekündigte Thema. Dieses wird direkt im 1. Teil „Aus der Geschichte des Glaubens und der Kirche: Der Begriffskreis um den Offenbarungsglauben“, dem 2. Teil „Statt des alten Gegensatzes von Vernunfterkenntnis und Glaubenserkenntnis die moderne Dreigliederung: Wissenschaft, Philosophie, Theologie“ sowie im 7. Teil „Können philosophischer Glaube und Offenbarungsglaube sich treffen?“ behandelt. Als Vorläufer dieses Buches kann man die Schrift Der philosophische Glaube von 1948 und den 1960 erschienenen ausführlichen Beitrag zu einer Festschrift von Heinrich Barth ansehen. Dieser Beitrag umfasst 92 Seiten und hat den Titel „Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung“ (in: Philosophie und Christliche Existenz. Festschrift für Heinrich Barth zum 70. Geburtstag, hrsg. von Gerhard Huber, Basel/Stuttgart 1960).

Jaspersʼ Hauptgedanken in diesem Buch gehen von der metaphysischen Grundannahme aus, dass es ein „absolutes Sein“ oder ein Sein als alles „Umgreifendes“ gibt, das gänzlich „ungegenständlich“ ist, weil es in den allgemeinen Kategorien des Denkens und Sprechens nicht erfasst werden kann. Jaspers nennt dieses Sein die „Transzendenz“. Auf dieses undenkbare und nicht direkt aussprechbare Sein stösst der Mensch, wenn er mit Denkbemühungen an prinzipiellen Grenzen der Verstandesrationalität scheitert, oder wenn er im Leben durch die Konfrontation mit Grenzsituationen (Tod, Leiden, Schuld, Kampf, Zufall) existentiell betroffen wird, oder wenn er sich in der existentiellen Kommunikation mit einem anderen Menschen in dieser Beziehung und in seiner Freiheit darin als von der Transzendenz „geschenkt“ erlebt. Chiffern der Transzendenz können für den Menschen, sofern er sich der Möglichkeit seiner Existenzverwirklichung bewusst ist, ebenfalls zu indirekten „Zeigern“ oder „Leitfäden“ auf die Transzendenz hin werden. Für Jaspers kann alles zu einer Chiffer der Transzendenz werden (Naturphänomene, kulturelle Artefakte, auch Menschen in der spezifischen Verwirklichung ihres Personseins usw.) und nicht zuletzt auch Religionen mit ihren Gottesbildern.

Jaspers übt im vorliegenden Buch Kritik an allen Offenbarungsreligionen. Ob sie nun wie das Christentum von einer direkten Offenbarung Gottes in der Welt ausgehen oder Propheten oder Priester aufgrund von angeblichen „Erleuchtungen“ im Namen eines persönlichen Gottes sprechen, in allen Offenbarungsreligionen liegt für Jaspers eine ungerechtfertigte Vergegenständlichung der Transzendenz vor. Schon in der Bibel werde verlangt, sich kein Bildnis von Gott zu machen. Werden Göttern bestimmte Eigenschaften zugesprochen, seien dies nur Anthropomorphismen. Die Behauptungen der Existenz eines persönlichen Gottes mit bestimmten Eigenschaften sollten nur als Chiffern verstanden werden, die indirekt auf die undenkbare und unaussprechbare Transzendenz verweisen. Diese bleibt verborgen, man kann mit ihr weder über Gebete und das Gewissen noch über religiöse Rituale oder Gottesdienste in Beziehung treten.

Ein Hauptgesichtspunkt der Kritik von Jaspers an den Offenbarungsreligionen liegt darin, dass man letzten Endes nicht unterscheiden könne, was der Inhalt einer Offenbarung sei und was von den Interpreten (Propheten, Priestern) eines angeblichen Offenbarungsgeschehens, in dem sich ein Gott in der Welt kundgetan habe, hineininterpretiert wird. An den christlichen Offenbarungsreligionen wird im Besonderen den Inkarnationsgedanke kritisiert. Der Mensch Jesus könne nicht zugleich auch Christus, der Sohn Gottes, sein. Er war für Jaspers vielmehr ein beeindruckender Prophet, der mit seinem Leben ein zeitloses Beispiel dafür gab, wie man Leiden ertragen und wie man bedingungslos lieben könne. Insofern ist Jesus heute noch ein „maßgebender Mensch“ in der Menschheitsgeschichte (vgl. dazu auch das Kapitel: Die maßgebenden Menschen: Sokrates-Buddha-Konfuzius-Jesus, in: K. Jaspers, Die großen Philosophen. Erster Band, München 1957).

Weitere Gesichtspunkte der Kritik am Offenbarungsglauben betreffen vor allem den Absolutheits- und Ausschliesslichkeitsanspruch solcher Glaubenspositionen. Wenn von deren Vertretern behauptet wird, dass nur ihre Religion auf der Offenbarung des einzig wahren Gottes beruhe und nur sie den einzig richtigen Heilsweg anzubieten hätten, sieht Jaspers darin nicht nur Unwahrhaftigkeit. Solche Ansprüche implizieren aus seiner Sicht auch Machtansprüche der Religionsautoritäten, die in den Kirchen hierarchisch organisiert sind. Darüber hinaus sind mit solchen Ansprüchen oft Glaubensfanatismus und die Herabsetzung von Andersgläubigen oder nicht religiös Gläubigen verbunden. Ansprüche darauf, im Besitz der einzig wahren Religion zu sein, können auch gewaltsamen Missionierungseifer stimulieren. Dass Jaspers bei den christlichen Konfessionen dabei weniger den Protestantismus als den Katholizismus vor Augen hatte, legt seine Kritik an der „Katholizität“ in dem Buch Von der Wahrheit (847 ff.) nahe.

Dem religiösen Offenbarungsglauben stellt Jaspers den „philosophischen Glauben“ gegenüber, den er durch Offenheit, prinzipielle Kommunikationsbereitschaft, Toleranz und Vernunftorientierung charakterisiert. Dieser Glaube ist nicht in Kirchen organisiert, hat keine Glaubensautoritäten, die über Rechtgläubigkeit entscheiden. Der philosophisch glaubende Mensch ist offen und bereit, auch mit Vertretern von Offenbarungsreligionen zu kommunizieren, wenn es um allgemein menschliche Anliegen geht. Er schätzt die Bibel als ein bedeutendes Buch in der Menschheitsgeschichte, weil darin in Form von Metaphern oder Chiffern allgemein menschliche Grunderfahrungen und Werthaltungen zum Ausdruck kommen, die für das Menschsein überhaupt auch in der Zukunft relevant sein können. Was die Zukunft betrifft, hat Jaspers in seinen politischen Schriften (vgl. vor allem: K. Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München 1958) als anzustrebendes Ziel der Menschheitsentwicklung das schrittweise Hinarbeiten auf einen „Weltfriedenszustand“ vor Augen gestellt. Für eine solche Entwicklung hält Jaspers die Offenbarungsreligionen im Vergleich zum philosophischen Glauben allerdings für ungeeignet und kontraproduktiv, solange diese nicht auf ihre jeweiligen Absolutheits- und Ausschliesslichkeitsansprüche in Bezug auf den Besitz der einzig wahren Religion und den einzig richtigen Heilsweg verzichten.

Über die Intention dieses Buches hat Jaspers in einem Rundfunkgespräch vom 26. Februar 1963, das er mit dem protestantischen Theologen Heinz Zahrnt geführt hat (publiziert als: Karl Jaspers – Heinz Zahrnt: Philosophie und Offenbarungsglaube. Ein Zwiegespräch. Hamburg: Furche-Verlag 1963), folgendes gesagt: „Diese Schrift möchte aus dem Ursprung philosophischen Glaubens sprechen, der lebendig ist, seitdem Menschen denken. Sie möchte bezeugen, dass der Verlust des Offenbarungsglaubens keineswegs die immer neue Aneignung des unersetzlichen Wahrheitsgehalts der Bibel ausschließt. Vielmehr steht in der Situation unserer Tage die Verwandlung der biblischen Religion für uns Abendländer, der anderen Religionen für deren Gläubige, der Philosophie für alle, fast greifbar vor Augen.“ (S. 13).

Karl Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung.
München: R. Piper & Co. Verlag 1962. 8-13. Tausend 1963.

Die kommentierte und kritisch geprüfte Version dieses Werks ist als Band I/13 der Karl Jaspers Gesamtausgabe (KJG) im Jahr 2016 erschienen.

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